Dienstag, 22. August 2006

CASTA DIVA




















Poussières d’amour – Abfallprodukte der Liebe

Auf der steilen Treppe der Abtei von Royaumont purzelt mitten in der Arie ein Tafelbild die Stufen herunter und trifft die beiden grandiosen (Mezzo-)Sopranistinnen Kristine und Katherine Ciesinski ins Kreuz. Da die Sängerinnen auch begnadete Schauspielerinnen sind, versuchen sie weiter zu spielen (Berlioz); denn die Perfektion ist es nicht (allein), die zum höchsten Ausdruck verhilft. Opern-, Theater- und Filmregisseur Werner Schroeter (»Tosca« in der Bastille, MALINA im Kino) hat in seinem spielerischen poetisch-essayistischen Dokumentarfilm die großen, die legendären Sänger und Sängerinnen, die er liebt, für jeweils ein, zwei Tage in die von sich aus bühnenreife Abtei geholt. Für kurze Zeit sind die Gäste von beruflicher und privater Routine befreit, auch von der Sterilität und Perfektion des Tonstudios.

Wo kommt sie her, die Expressivität, der Ausdruck der großen Stimme? Was jagt den Schauer über den Rücken? Ist es die Intensität „unserer Suche nach einer größeren Annäherung mit dem Anderen, nach der Liebe und sämtlichen denkbaren Liebesfähigkeiten" (Schroeter)? Die Antworten lassen Pathos gar nicht erst aufkommen: »Ich habe gelernt mit den Eierstöcken zu singen, und zwar mit zehn Paar gleichzeitig.« Gelächter. Schroeters Film, ergreifend genug, ist der kurzweiligste Zweistundenfilm, den ich in letzter Zeit gesehen habe. Große Gefühle, große Musik - und wieder weggeblasen, mit leichter Hand, einige Male auch mit gnädig entlassender Geste. Schroeter ist der Hausherr (und der Regisseur), und er bringt die Gäste dazu sich zu öffnen (und den Zuschauer dazu).

Ein wenig teilnahmslos saß die legendäre Verdi-Sängerin Anita Cerquetti vor der Kamera, das linke Auge geschlossen. Sie hatte den Regisseur soeben das erstemal getroffen. 65 Jahre alt ist sie heute, und seit 25 Jahren hatte sie nicht mehr gesungen. Schluß mit der hypnotisierenden, luftig-sanften, stets kurz vor dem Hysterischen haltmachenden Stimme. Ja, wir hören es jetzt, sie hat die Stimme verloren; sie beantwortet die Fragen, nach dem Warum, die Carole Bouquet stellt. Und sie überwindet sich: „Anita, fang an", befiehlt Maestro Schroeter. Ihr linkes Augenlid, das sie geschlossen hielt, öffnet sich; die »Casta Diva«-Platte, eine Aufnahme aus den sechziger Jahren, läuft; das Gesicht belebt sich; die Lippen bewegen sich; sie scheint wieder zu singen; die Tränen rollen ihr die Nasenspitze herunter; in der Schlußsequenz blickt sie, schön, verjüngt, zum Himmel hinauf. Ein Wunder.














»Gott offenbart sich in der Musik«, hatte der große Tenor Sergej Larin zu Beginn des Films gesagt. Deutschlands Wägnersingerin Martha Mödl, 83, läßt sich von Isabelle Huppert befragen, Schroeter übersetzt live im Off. »Keine Ahnung, wo der Ausdruck meiner Stimme herkommt«, sagt sie und lacht. Furtwängler vertraute ihrem Gefühl: »Bei ihm durfte man Fehler machen«. Wieder befreiendes Lachen; das rechte untere Augenlied der Huppert zuckt nicht mehr. Dann gibt ihr die Mödl vor der Kamera Gesangsunterricht. Mozart? Titus? - Jetzt macht der Film einen Fehler. »Wir haben kein Material mehr«, hört man den Regisseur im Off. Und Martha Mödl arbeitet danach gegen das »Geradeheraus« der Huppert-Stimme: »Versuch es zart und leger.« Die beiden verstehen sich.

Werkstatt? Therapeutische Sitzung? Festakt der großen Stimmen? Die Diven privat? - Nichts davon oder doch von allem ein wenig, aber aufgehoben in einer der Hochkultur würdigen Ausstattung (Alberte Barsaq) und Licht/Kamera-Inszenierung (Elfi Mikesch). Wie immer holt Schroeter ernüchternd und liebevoll-beiläufig all das, was bloßes Pathos werden will, rechtzeitig vom Podest herunter. Seine Regieanweisungen sind auf der Tonspur: »Elfi, wenn du schaust, daß …; dein Licht ist toll, sehr schön, Elfi.«

Wir sind dabei wie ein Produkt entsteht: durch Intervention. Schroeters Eingriffe imponieren besonders dann, wenn er, ohne zu verletzten, die Unnahbarkeit einer besonders würdevollen Sängerin aufbricht. Rita Gorr wird in diesem Jahr 70, und sie zeigt sich in Schroeters Film als Freundin. Bei keiner der Sängerinnen, Jenny Drivala, Gail Gilmore, Trudeliese Schmidt, scheitert Schroeter, wohl aber bei Laurence Dale. Er singt den Werther (Masseriet), aber man sieht es, das Gesicht ist zu; der berühmte Tenor bricht ab, schüttelt verzweifelt die Hände. »Du öffnest dich nicht«, wirft ihm Schroeter vor. Ein Beziehungsknatsch deutet sich an. Dieser wird durch die Fehlerfreiheit wettgemacht, mit der eine Kürbissuppe zubereitet wird.

Schroeter spricht von der Angst vor dem Tod, von der Bedrohung durch Aids. Dem Tod entgegen setzt er die Veranstaltung seines Liebesmahls und -gesangs in den christlichen Mauern des 13. Jahrhunderts. Den göttlichen Ausdruck des Ti-amo zu finden, bedarf der Racollage, des »wie sagt man? Des Sich-Ran-Spielens«. Das ist die Stunde der Inszenierung: der Inszenierung der Sänger-Stimmen, der Inszenierung der Fehler, der Selbst-Inszenierung. Unter dem Kuppelrund der Abtei ist der Boden mit Sand ausgestreut. Eine Zirkusarena. Ein nackter Reiter. Ein nackter Akrobat im Doppelrad. Ein Sänger, Larin: »Meine Pflicht hab ich getan« (Fidelio).

Frage: Was ist der Ausdruck der Schroeter/ Mikesch-Bilder? Der Film selbst ist ein Abfallprodukt der Liebe, wäre die Antwort. Ganz unpathetisch gesagt, eher lapidar, so wie der gaffer einmal vor der Kamera steht, von Kopf bis Fuß, und seinen Mikrogalgen durchs Bild hängt. Die Tonaufnahme ist es, die das große Bilderlebnis garantiert. Die grandiose Bildschnittkunst (Juliane Lorenz) in allen Ehren, aber der Film, wiewohl produziert unter Beteiligung von deutschen und französischen Fernsehanstalten, sollte unbedingt im Kino gesehen werden, - in einem mit sehr guter Tonanlage.


Dietrich Kuhlbrodt


POUSSIERES D’AMOUR
BRD/Frankreich 1996.

R: Werner Schroeter. B: Werner Schroeter, Claire Alby. K: Elfi Mikesch. Sch: Juliane Lorenz. A, Ko: Alberte Barsacq.

Pg: Schlemmer Film / MC 4 / Imalrye / UTCOM / La Sept / Arte / WDR. FBW: wertvoll. U: TiMe. L: 120 Min. St: 7.11.1996.

Mit: Anita Cerquetti, Martha Mödl, Rita Gorr, Kristine Ciesinski, Katherine Ciesinski, Laurence Oale, Jenny Drivala, Gail Gilmore, Sergei Larin, Carole Bouquet, Isabelle Huppert.






Dieser Text ist zuerst – ohne Bildmaterial – erschienen in: epd film 12/96